Tut es weniger weh, wenn ich sage, es war nur ein One-Night-Stand?

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squirrl88 yrs
Er ist 23 und erzählt: Ich habe alle meine Partner betrogen. Bei Partys inszeniere ich mich als Jura studierender

»Vor zwei Jahren wurden mir in einem Klub mal K.-o.-Tropfen untergejubelt. Ich hatte einen Totalabsturz und eigentlich keinen guten Abend. Irgendwann, auf einer Party, erzählte ich ein paar Leuten davon – allerdings ganz anders. Ich erzählte, mit wie vielen Leuten ich rumgemacht hätte, jegliche Drogen ausprobiert hätte und die beste Partynacht meines Lebens hatte. Ich wollte unbedingt als Held aus der Geschichte gehen. Blöd nur, dass es niemand gefeiert hat. »Das klingt aber gar nicht gut«, sagte eine Freundin zu mir damals. Ich bin also völlig gegen die Wand gefahren.

Der erwartete Ruhm blieb aus. Ich habe in diesem Moment nicht das bekommen, was ich wollte: Aufmerksamkeit, vielleicht sogar Anerkennung. Seit dem Vorfall habe ich mich gefragt: Warum lüge ich eigentlich?
Arzt und berichte von Drogenexzessen, die es nie gab.



Ich stehe gern im Mittelpunkt und würde mich als Geschichtenerzähler bezeichnen: Meine Erlebnisse müssen besser und krasser sein als die von anderen. The bigger, the better.

Als Kind habe ich oft geweint, um zu bekommen, was ich will. Zum Beispiel, wenn mein großer Bruder und ich gestritten hatten. Dann hat er den Ärger bekommen und ich zum Trost Süßigkeiten – und die ganze Aufmerksamkeit.

Während der Schulzeit habe ich oft meine Hausaufgaben nicht machen wollen. Ich wurde hervorragend darin, es zu vertuschen. Manchmal habe ich mich trotzdem zum Vortragen gemeldet und so getan, als würde ich Sätze vorlesen, die aber gar nicht in meinem Heft standen. Es war aufregend für mich: Schaffe ich es, alle zu täuschen?

Gerade Notlügen waren Bestandteil unseres Familienalltags. Meine Mutter sagte immer, sie sei krank, wenn wir meine Oma besuchen sollten – weil sie sie nicht mochte. Das Thema Lügen war seit meiner Kindheit also sehr präsent. Das soll gar nicht mein jetziges Verhalten rechtfertigen. Nur habe ich als Kind eben gesehen: Wenn etwas nicht passt, wird es passend gemacht.

Mit 17 Jahren hatte ich mein Outing. Mit 12 wusste ich bereits, dass ich schwul bin. Ich würde sagen, dass das meine größte Lüge im Leben war. Ich habe jahrelang aktiv meine Freunde und Familie angelogen, allen voran meine Eltern. Aber meine krassesten Lügen betreffen das Thema Fremdgehen. Ich war bisher in drei festen Beziehungen – jeden meiner Partner habe ich betrogen. Es waren nicht nur Zufallsbekanntschaften bei einer Party oder im Klub, und dann ist es eben passiert. Ich bin auch auf einige Dates gegangen – mit Typen, die ich über eine Dating-App kennengelernt habe. Es gab Situationen, in denen ich meinem damaligen Partner gesagt habe, ich würde in der Bibliothek lernen, während ich in Wahrheit mit meiner Affäre unterwegs war. Es war wie damals mit den nicht gemachten Hausaufgaben: Kann ich es vertuschen, ohne dass es jemand merkt? Ich musste vorsichtig sein, Chats archivieren, Fotos löschen. Das ging auch schon in Richtung Gaslighting, wenn die Person irgendwelche Chats auf meinem Handy gelesen und mich konfrontiert hat und ich dann alles abgestritten habe: »Nein, Schatz, das stimmt nicht.«

Das Versteckspiel hat mich gereizt. Es gab mir einen Kick. Klar hätte ich auch einfach die Beziehung ganz beenden können. Sicherlich hatte das auch mit fehlender emotionaler Reife zu tun. Meine Beziehungen gaben mir zwar Sicherheit, aber die Affären waren Nervenkitzel. Und natürlich ist das auch eine Art von Bestätigung: Es gibt auch andere Männer, die auf mich stehen, deren Aufmerksamkeit ich bekomme. Reiner Ego-Push.


squirrl88 yrs


Einmal hat eine Affäre herausgefunden, dass ich eigentlich einen Freund hatte. Ich wurde direkt konfrontiert: »Du bist ein Fremdgeher!« Da habe ich erst realisiert: Ich verletze Menschen mit meinem Verhalten. Mir selbst versuchte ich einzureden, dass es nicht so schlimm ist – dann kamen Rechtfertigungen zustande à la »Er war auch nicht immer ehrlich zu mir«. Ich habe versucht, die Fehler meines Partners gegen meine eigenen aufzuwiegen. Schließlich bin ich einmal aufgeflogen, und ich musste meinem damaligen Partner gestehen, ihn betrogen zu haben. Es fiel mir schwer, die Wahrheit zu sagen, als er mich gefragt hatte: »Wie oft hast du ihn getroffen? Habt ihr miteinander geschlafen?« Sage ich ihm jetzt, dass ich mit meiner Affäre Kino-Dates hatten? Wie oft wir uns gesehen hatten? Tut es ihm nicht weniger weh, wenn ich einfach sage, es war nur ein One-Night-Stand? Macht es einen Unterschied, wie oft es passiert ist? Reicht es nicht, zu wissen, dass es passiert ist? Das ist doch eine Win-win-Situation, wenn ich aus der Sache besser rauskomme und die andere Person nicht noch mehr verletzt wird, als sie es eh schon wurde. Einfacher und unkomplizierter für beide Parteien, oder nicht? Und ich war mir sicher, dass ich mit der halben Wahrheit auch durchkomme.
»Das Lügen macht mein Leben einfacher, vor allem aber spannender.«

Wenn ich neue Leute kennenlerne, stelle ich mir erst mal die Frage: Sage ich nun die Wahrheit über mich oder lüge ich? Es gibt persönliche Dinge, gerade aus meiner Jugend, die ich bei einem ersten Kennenlernen nicht thematisieren will. Vielleicht ist das auch die unterschwellige Angst davor, wie mein »wirkliches« Ich bewertet wird. Selbst bei einigen meiner engen Freunde habe ich das Gefühl, dass ich nicht alles erzählen kann, auch nicht das Fremdgehen. Dann wird mir vorgeworfen: »Wie kannst du nur so etwas tun?«, weil sie mich eigentlich ganz anders kennen und ein gewisses Bild von mir haben. Aber eigentlich sind es ja meine Freunde – und eigentlich sollten sie alle meine Seiten kennenlernen. Daran will ich auf jeden Fall arbeiten. Ich möchte meine Mitmenschen nicht mit meinen Lügen verletzen.

Das Lügen ist so ein großer Teil meines Lebens, dass ich oft selbst nicht mehr genau weiß, wie gewisse Situationen in Wahrheit stattgefunden haben. Es ist nun mal so, dass ich Erzählungen von Person zu Person immer mal anders wiedergegeben habe, dass sich Lügen automatisch einschleichen. Daher kann ich auch nicht ausschließen, dass die von mir geschilderten Situationen vielleicht nicht doch etwas anders verlaufen sind.

Ich gestehe aber: Das Lügen macht mein Leben einfacher, vor allem aber spannender. Für eine Spaß-Lüge bin ich immer zu haben. Du bist auf einer Veranstaltung, wo dich niemand kennt? Das ist die Chance, sich selbst neu zu erfinden. Dann wird aus mir schnell mal ein Überflieger-Arzt, der in Somalia Krankheiten geheilt hat und nebenbei noch Jura studiert. Das Geheimnis einer guten Lüge ist, sie so sehr ins Lächerliche zu ziehen, dass es nur wahr sein kann. Eine gute Lüge kann unterhalten, ist komplex und gut durchdacht. Eine gute Geschichte eben.

aus der SPIEGEL
T********h
Lügen ist mir zu anstrengend. Da muss ich mir ja immer merken was ich gesagt habe.
Die Wahrheit kenne ich ja, das ist einfacher.
Fremdgehen ist da für mich ein anderes Thema. Da möchte man ja auch nicht unnötig verletzen. Vielleicht ein Wiederspruch?
squirrl88 yrs
Eine Lösung ist vielleicht das was ein mir bekanntes Paar gemacht hat. Nachdem sie schon jahrelange befreundet zusammen waren, haben sie geheiratet als das möglich war. Sie verabredeten dann gemeinsam zur Sauna nach Hannover zu fahren und könne dann jeder seiner Wege gehen. An dem Tag hatten beide ihrer Abwechslung und die Suche nach einem Seitensprung hatte sich erledigt.
T*********m
Das mit dem Lügen einzuordnen ist gar nicht so einfach. Manchmal kann eine Notlüge auch hilfreich in einer Situation sein.
Bei pathologischem Lügen ist dies anders zu sehen.
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